30 Jahre Deutsche Einheit – Wie weit sind Ost und West mit der Wiedervereinigung?

Deutsche Einheit
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Am 3. Oktober 2020 jährt sich die Wiedervereinigung zum 30. Mal. Nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 kam es ein Jahr später im Oktober 1990 unerwartet schnell zur Vereinigung der beiden Teile Deutschlands zu einem gemeinsamen Staat. Vor allem die Generation der älteren Deutschen und zuallererst der frühere Bundeskanzler Willy Brandt gingen davon aus, dass nun "zusammenwächst, was zusammengehört" und dass es nicht mehr als eine Generation dauern würde, bis beide Seiten den Prozess der deutschen Wiedervereinigung abgeschlossen hätten.

Diese „Generation“ ist nun vorüber und deshalb wollen auch wir von CarlMarie uns fragen: Sind die Deutschen wirklich eins geworden und im Osten, wie es der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl versprach, „blühende Landschaften“ entstanden? Oder ist die kraftvolle Euphorie der ersten Nachwende-Jahre Ernüchterung gewichen? Gibt es immer noch den „Besser-Wessi“ und den „Jammer-Ossi“, das „Fass ohne Boden“ und den „Super-GAU deutsche Einheit“? Oder profitiert in Wirklichkeit ganz Deutschland von den komplexen Erfahrungen einer einzigartigen Geschichte?

Der „Zehn-Punkte-Plan“ zur deutschen Wiedervereinigung

Nachdem am 9. November 1989 für alle völlig überraschend die Berliner Mauer von heute auf morgen gefallen war, dauerte es nur wenige Wochen, bis auf den Montagsdemonstrationen in der vor dem Untergang stehenden DDR die Rufe nach einer Wiedervereinigung immer lauter wurden. So laut, dass auch Bundeskanzler Helmut Kohl letztlich nach der historischen Chance griff und kurze Zeit später und ohne vorherige Absprache im Bundestag seinen berühmt-berüchtigt gewordenen „Zehn-Punkte-Plan“ für die Wiedervereinigung der zwei deutschen Teilstaaten vorlegte. Der Rest ist Geschichte: im Juli 1990 kam erst die Wirtschafts- und Währungsunion und am 3. Oktober der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Doch was ist passiert seither? Sind sich die Deutschen nähergekommen oder haben die Unterschiede zwischen Ost und West sich in den vergangenen 30 Jahren eher verschärft?

Der neue „sozialistische Mensch“

Fakt ist, dass die meisten Menschen in Ost und West die älter als 40 Jahre alt sind, eine völlig unterschiedliche Sozialisation erfahren haben. Im Osten wurden soziale Hierarchien abgeflacht. Es herrschte Zentralisierung und ein gewisser Einheitszwang, was dazu führte, dass selbst die politische Elite, so sehr sie sich auch von Masse der Bevölkerung entfernt hatte, nicht in Saus und Braus lebte. Frauen wurden in weiten Teilen der Gesellschaft der DDR gleichbehandelt, hatten aber den Haushalt zu ihren übrigen Pflichten noch mit zu führen. Einwanderung war strikt reglementiert und der Austausch zwischen verschiedenen Kulturen wurde argwöhnisch überwacht, wenn nicht sogar völlig unterbunden. Kurz gesagt, die Bemühungen, einen neuen „sozialistischen Mensch“ zu schaffen, waren – ob es einem gefällt oder nicht – nicht ganz erfolglos. Ein Fakt, der das Projekt Wiedervereinigung nicht gerade leichter macht.

„Beitritt“ der DDR

Was den Prozess der deutschen Einheit allerdings trotz aller Unterschiede auf unnatürliche Art beschleunigt hat, war die Tatsache, dass im Gegensatz zu vielen Bürgerrechtlern jener Zeit die meisten einfachen Menschen im Osten keinerlei Interesse an einem reformierten Sozialismus hatten. Sie waren einfach glücklich, die prosperierende liberale Demokratie zu übernehmen, die bereits in Westdeutschland nach dem Krieg entstanden war. Nicht umsonst sprach man in der Phase der Wiedervereinigung immer wieder vom „Beitritt“ der DDR. Schon damals gab es zahlreiche mahnende Stimmen, die sich eine gesamtdeutsche Abstimmung über das „Grundgesetz“, die – so wurde es schriftlich formuliert – lediglich „vorübergehende“ Verfassung der Nachkriegs-BRD, wünschten.

Trabant
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Nach wie vor starke Identifikation mit der DDR

Wie im weiteren Verlauf unserer Serie noch detaillierter ausgeführt wird, führten viele Entwicklungen der vergangenen 30 Jahre dazu, dass sich ein Großteil der Ostdeutschen begann, mehr und mehr für ihre besondere Identität zu interessieren, während das auf westlicher Seite mit Undank und einer fehlenden Anpassungsbereitschaft gleichgesetzt wurde. Im Ergebnis fühlen sich heute fast alle Ostdeutschen zwar als Deutsche, aber zwei Drittel empfinden nach wie vor eine starke Identifikation mit der alten DDR. Diese Zahl hat sich in den vergangenen 15 Jahren mehr als verdoppelt, was ein starkes Indiz für eine zunehmende Entfremdung zwischen Ost und West ist.

Eine wirtschaftliche Kluft

Das wohl zentralste Element dieser Entfremdung liegt zweifellos in der wirtschaftlichen Ungleichheit zwischen Ost und West. Vor dem 2. Weltkrieg waren moderne Industrien wie Maschinen- und Fahrzeugbau, Textilindustrie und Fertigungstechnik vor allem im Osten angesiedelt, während im Westen Schwer- und Rüstungsindustrie sowie Rohstoffgewinnung dominierten. Dann allerdings profitierte der Westen vom Marschall-Plan der USA, während der Osten nicht nur von der Sowjetunion durch Kriegsreparationszahlungen ausgemergelt, sondern danach auch durch die dysfunktionale Planwirtschaft zersetzt wurde. 1989 stand die DDR kurz vor dem Staatsbankrott und war in vielen Industriezweigen in Konkurrenz zur westlichen Ökonomie kaum noch wettbewerbsfähig. Die Gesprächsrunden zum Thema Währungsumstellung, so bestätigten es immer wieder Anwesende, fanden im kleinsten Kreis der Notenbankvertreter und Staatssekretäre statt.

Der damalige Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer rechnete immer wieder vor, dass aufgrund der ökonomischen Unterschiede zwischen DDR und BRD der Umtauschkurs nur 1:10 sein könne. Das hätte allerdings zu einem kaum zu vermittelndem Gefälle zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen geführt. Helmut Kohl soll deswegen eindeutig gesagt haben: „Es wird keine wirtschaftliche Entscheidung geben. Es wird eine politische. Unsere Kriegskassen sind voll.“ Das bedeutete einen Umtauschkurs von 1:1, wobei die Ostmark damit eine Wertsteigerung von etwa 400 Prozent erfuhr. Damit war allerdings auch klar, dass die Rentabilität der ostdeutschen Unternehmen nur aufrechterhalten werden könne, wenn die Kosten entsprechend gesenkt würden. Dies war jedoch unmöglich, da durch die Währungsunion einfach jede Schraube und jeder Lohn in West-Mark berechnet wurde. Weil auch die Waren nun einen Westpreis bekan, brach der vorher florierende Handel mit anderen osteuropäischen Staaten quasi über Nacht in sich zusammen. Ein Schock, den auch die ostdeutschen Betriebe mehrheitlich nicht überleben konnten.

Die Treuhand

Im Westen nahm man gegenüber der nun einsetzenden Deindustrialisierung des Ostens eher eine ignorante bis überhebliche Haltung ein. Zu überzeugt war man davon, dass sich auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre wiederholen lassen würde. Die SPD erhoffte sich von der Einführung der D-Mark einen „Startschuss für ein Wirtschaftswunder in der DDR“ und FDP-Chef Otto Graf Lambsdorff tönte: „Was wir 1950 geschafft haben, das schafft auch die DDR 1990.“ Was allerdings passierte, war die Gründung der „Treuhandanstalt“, die hauptsächlich von Westdeutschen geführt die Privatisierung des „Volkseigentums“ der DDR organisieren und durchführen sollte. Der Ausverkauf ging mit legaler und illegaler Korruption einher, war stark auf die Interessen westlicher Unternehmen ausgerichtet. Im Laufe dieses Prozesses wurden nur fünf Prozent der Unternehmen der Treuhandanstalt an Ostdeutsche, aber 85 Prozent an Westdeutsche verkauft. Die wirtschaftliche Kluft in Deutschland nahm wieder zu. Leistungsfähige Unternehmen und der überwiegende Teil des Privatvermögens lagen im Westen, während der Osten u.a. damit begann, sich über die politischen Verwicklungen Einzelner – Stichwort Stasi – selbst zu zerfleischen.

Innerdeutsche Grenze
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„Wir sind ein Volk“ war der Gesang auf den Straßen

Vergleichbar groß war auch die Hoffnung, dass die Ostdeutschen bei vorher erbrachter Anpassungsleistung rasche und vollständige Gleichstellung erreichen würden. Allerdings war dies nicht in ein paar Jahren zu erreichen. Im Osten wurden hauptsächlich Westdeutsche auf die Machtpositionen berufen. Leitende Beamte, Professoren sowie Spitzenkräfte in der Industrie und den Streitkräften kamen fast ausschließlich aus den alten Bundesländern. Die „Einheimischen“ hingegen gerieten in eine quasi einwandererähnliche Position. Sie hatten ihre Heimat hinter sich gelassen und befanden sich in einem fremden Land. Ihr soziales Mobiliar wurde plötzlich einmal auf links gedreht. Ihr kulturelles Kapital wurde abgewertet. Die Ostdeutschen, so der Journalist Toralf Staud, „waren an Ort und Stelle verwurzelt und wanderten trotzdem aus.“

Die deutsche Einheit – ein vollkommen einzigartiges Projekt

Im Westen konnte man bezüglich dieses hochkomplexen Transformationsprozesses auch auf keine Erfahrungswerte zurückblicken. Der Aufbau Ost war zweifellos eine historische Leistung, aber dass von Regierungsseite in den 1990er Jahren fast nichts unternommen wurde, um die wachsende Kluft zwischen Ost und West zu schließen, fällt dem ganzen Land bis heute auf die Füße. Viele Entscheidungen haben im Westen Deutschlands kaum etwas verändert, während der Osten sich zumindest anfänglich in ein Niedriglohngebiet und neoliberales Testgelände verwandelte. Um Investoren anzulocken, wurden Arbeitgeber beispielsweise aufgefordert, mit Praktiken zu experimentieren, die die stärkeren Gewerkschaften im Westen blockiert hätten. Nationale Tarifverträge wurden im Osten sukzessive zersetzt. Sachsen ist bis heute jenes Bundesland, in dem die Umgehungsrate der Tarifverträge in Deutschland am höchsten ist.

Investitionen im Osten landen als Gewinn wieder im Westen

Ein anderes Thema sind die Staatsausgaben, mittels derer der Aufbau-Ost vorangetrieben werden sollte und auch der sogenannte „Solidaritätsbeitrag“ finanziert wurde. Diese Milliarden-Transfers von West nach Ost waren über viele Jahre sehr umfangreich. Dies trug dazu bei, dass die Löhne und das Pro-Kopf-BIP im Osten Anfang der 2000er-Jahre auf rund 80 Prozent des Westens stiegen. Die Lücke der restlichen 20 Prozent will sich allerdings bis heute nicht schließen lassen. Noch eklatanter sind die Unterschiede in den Vermögenswerten. Da die meisten Vermögenswerte der Ostdeutschen, nämlich das vormalige Volkseigentum nun hauptsächlich Westdeutschen gehört, fließt zwar ein Großteil der deutschen Transferausgaben von den westlichen Steuerzahlern in den Osten, um dann allerdings in Form von Mieten und Unternehmens-Gewinnen sofort wieder zurückzukehren. Insofern erfolgte lange ein nicht unerheblicher Transfer von westlichen Arbeitnehmern zu westlichen Eigentümern, die über östliche Infrastrukturprojekte und Sozialhilfeempfänger recycelt wurden.

Brandenburger Tor
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Annäherung bei unterschiedlichen Erfahrungswelten

Bei all den Ungleichheiten sind sich Ostdeutsche und Westdeutsche in den vergangenen Dekaden trotzdem nähergekommen, als sie es vor dem Mauerfall waren. Was lange Zeit nicht berücksichtigt wurde, ist die Existenz des Ostens als ein gemeinsamer Erfahrungsraum. Und darin spielen zahlreiche negative Dinge der Nachwendezeit wie die Konfrontationen mit Arbeitslosigkeit, Insolvenz, Verlust des öffentlichen Raums und die Ignoranz ostdeutscher Eigenheiten eine nach wie vor große Rolle. Das alles enthebt die Ostdeutschen allerdings nicht von der Verantwortung, der sich jeder Einzelne in einer offenen Zivilgesellschaft stellen sollte.

Oder wie es der anerkannte DDR-Historiker Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk in der Super-Illu sagte: „Eine wichtige Prägung, die fortwirkt, ist die Orientierung auf einen starken Staat, noch aus der Zeit vor 1989. … Die wurde nach 1989 fast nahtlos abgelöst vom Glauben an die Heilsversprechen eines neuen starken Staates – an die Versprechen der Bundesrepublik und Helmut Kohls von der D-Mark, dem Wohlstand, der sozialen Sicherheit und einer leichten Zukunft. Aus demselben Grund erzielt heute auch die AfD im Osten höhere Wahlerfolge als im Westen – mit dem Versprechen einer starken Hand, die alles für einen löst und einen vor dem Unbill der Welt behütet. Freiheit und Demokratie aber benötigen eine starke Zivilgesellschaft, in der der Einzelne Verantwortung übernimmt und nicht glaubt, Vater Staat wäre für die Regelung der eigenen privaten Dinge zuständig.“ In diesem Zusammenhang erinnerte der „Ossi“ Kowalczuk seine „Landsleute“ daran, dass sie damit aufhören sollten, sich „unterlegen oder als Opfer irgendwelcher Umstände zu sehen und von anderen die Lösung ihrer Probleme zu fordern.“ Vielmehr sollten sie sich stärker selbst vertrauen.

Wie ist die Perspektive?

Egal wie man den Prozess der deutschen Wiedervereinigung betrachten möchte, er zeigt in jedem Fall, dass auch lange zurückliegende Ereignisse die Zukunft auf unerwartete und tiefgreifende Weise beeinflussen können. 30 Jahre nach dem bedeutsamen Ereignis, das das Ende des Kommunismus in Ostdeutschland markierte, ist das, was als „zusammengehörig“ galt, noch nicht wirklich zusammengewachsen und wird dies möglicherweise noch lange nicht tun. Wir von CarlMarie wollen uns in den folgenden Teilen unserer Serie deshalb mit einigen Teilaspekten der deutschen Einheit beschäftigen und an diesen Beispielen aufzeigen, was die Zukunft für die Ost- und Westdeutschen bereithalten könnte.

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