Starke Frauen: Wilhelmine „Minna“ Reichard – Die Frau im Ballon

Silhouette eines Heißluftballongs im Sonnenuntergang
© istock/Tunatura
Als die Wahl-Dresdnerin Wilhelmine Reichard 1811 das erste Mal mit einem Heißluftballon in den Himmel stieg, da war halb Europa von einer regelrechten „Ballon-Manie“ ergriffen. Noch lange bevor die ersten Flugzeuge funktionstüchtig waren, versetzten waghalsige Ballonfahrten die Menschen in Aufregung. Und mittendrin immer wieder tollkühne Frauen, denen man ihre Künste ganz besonders hoch anrechnete.

In Deutschland war es vor allem Wilhelmine Reichard, die im Alter zwischen 22 und 31 Jahren siebzehn Ballonfahrten unternahm und damit zu einer Berühmtheit und einem Liebling der Zeitungen wurde. Sie war die erste Deutsche, die sich allein ohne Absicherung in die Lüfte erhob. Auch deshalb trägt das Flagschiff der Ballonfahrten Dresden seit 1998 ihr Porträt und ist am Himmel über Sachsen vielen Ballonfreunden ein treuer Begleiter.

Ende einer vier Jahrzehnte andauernden „Ballon-Mania“

Als der britische Tourist John Pool am 6. Juli 1819 aus seinem Pariser Hotelfenster blickte, da wurde er Zeuge eines spektakulären Szenarios, welches das Ende der vorher über vier Jahrzehnte andauernden „Ballon-Mania“ einläuten sollte, an dem Wilhemine Reichard Anteil hatte. Sophie Blanchard, eine 41-jährige Französin, war in einem Heißluftballon zum Himmel aufgestiegen und wollte Feuerwerkskörper aus ihrem Korb werfen. Doch nur wenige Minuten nach ihrem Aufstieg fing das Gefährt Feuer und sie stürzte, in das Netz ihres Ballons gewickelt, auf das schräge Dach eines Hauses in der Rue de Provence, von dort auf die Straße und war sofort tot.
Nur zwei Jahre nachdem Joseph Montgolfier den Heißluftballon erfunden hatte, war es 1784 ebenfalls eine, allerdings erst 19-jährige, Französin namens Elisabeth Thible gewesen, die als erste Frau eine Fahrt in dem neuen Fluggerät unternommen und damit ein erstes goldenes Zeitalter weiblicher Flugpionierinnen eingeleitet hatte. Ihr großer Star war Sophie Blanchard, die sich zu einer echten Künstlerin der Lüfte aufschwang und deren Heldentaten in ganz Kontinentaleuropa aber auch in England legendär wurden. Sie tourte durch Italien, Deutschland und Großbritannien.

„Eine Frau in einem Ballon ist nicht in ihrem Element …“

 

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Am erstaunlichsten war ihr spezieller Ballon, den der Historiker Richard Holmes so beschrieb: „Sie gab einen viel kleineren Seidenballon in Auftrag, der sie auf einer winzigen, dekorativen Silbergondel anheben konnte. Die hatte die Form eines kleinen Kanus oder einer Kinderwiege und war an beiden Enden nach oben gebogen, ansonsten aber recht offen. Das Ganze war kaum länger als einen Meter und einen Meter hoch an beiden Seiten, der Rand reichte ihr kaum über ihre Knie. Es war fast so, als stünde sie in einem fliegenden Champagnerkübel.“ Blanchards Nachtflüge wurden mit der Zeit immer gewagter und dramatischer: Ihr kleiner Ballon hob immer kompliziertere pyrotechnische Anlagen an, mit langen Auslegern, die Raketen und Kaskaden trugen, und schwebenden Netzen von bengalischen Lichtern, die sie mit ausgedehnten Systemen aus Kegeln und Sicherungen gekonnt zünden konnte. Und darüber ihre kleine weiße Figur und ihr gefiederter Hut, der sie wie eine überirdische Kreatur oder Erscheinung in der Luft aussehen ließ, die mehrere hundert Fuß über dem Nachthimmel über einem Meer von flammenden Sternen und farbigem Rauch schwebte. Das alles brach am 6. Juli 1819 zusammen, als Blanchards Ballon über Paris in Brand geriet und sie in den Tod stürzte. Ein Kritiker bemerkte damals: „Eine Frau in einem Ballon ist entweder nicht in ihrem Element oder zu hoch darin.“

Der österreichische Kaiser finanziert die Wahl-Sächsin

Dabei war es in Deutschland einer kaum Dreißigjährigen zum selben Zeitpunkt gelungen, genau das Gegenteil zu beweisen. Wilhelmine Reichard, auch Minna genannt, war das sachlich-wissenschaftliche Gegenstück zur schillernden Selbstdarstellerin Sophie Blanchard. Sie war ebenso mutig wie zurückhaltend und bescheiden. Während ihrer Aufstiege sammelte sie wissenschaftliche Daten, sie verfasste Zeitungsberichte und wurde selbst zum Liebling der Reporter. Und der österreichische Kaiser höchstpersönlich finanzierte einige ihrer luftigen Abenteuer. Nicht zu vergessen: Mit dem Geld, welches sie bei ihren Ballonfahrten verdiente, wurde 1821 der Aufbau eines Chemieunternehmens finanziert, welches vor allem Schwefelsäure herstellte und das erste seiner Art im Königreich Sachsen war.

Luftpionierin mit Leidenschaft – trotz acht Kindern

Bildnis der Wilhelmine Reichard
Adolph Friedrich Kunike creator QS:P170,Q108002 Foto: Peter Geymayer, Kunike-Reichard, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

Wilhelmine Reichard kam 1788 in Braunschweig zur Welt und hatte sowohl Kindheit als auch Jugend dort verbracht. Mit kaum 17 Jahren lernte sie den nur zwei Jahre älteren Gottfried Reichard kennen, der von den Erfolgen von Pierre und Sophie Blanchard inspiriert, gerade mit dem Bau eines eigenen Heißluftballons begonnen hatte. Beide heirateten 1806 und bekamen nicht weniger als acht Kinder, was das Paar allerdings nicht davon abhielt, sich völlig der Luftschifffahrt zu verschreiben. Beide übersiedelten für diesen Zweck nach Berlin, wo der erste von beiden konstruierte Gasballon mit Gottfried und Wilhelmine an Bord aufstieg. Schon ein Jahr später sollte die „fliegende Minna“ zu ihrem ersten Alleinflug aufsteigen und von Berlin ins 30 Kilometer entfernte Genshagen schweben. Viel später schrieb Wilhemina in einem Zeitungsartikel über einen ihrer Flüge: „…gleich einem Sonnenstäubchen im Weltall schwebend, seiner Winzigkeit sich so augenscheinlich bewusst werdend – ein Augenblick, der wie oft er sich mir auch noch erneuen möge, nie kalt lassen wird.“

Absturz und fünf Jahre Pause

Bei ihrer dritten Ballonfahrt am 30. November 1811 in Dresden erreichte Wilhelmine Reichard die Rekordhöhe von 7.800 Metern, wurde aber wegen des Sauerstoffmangels ohnmächtig und stürzte aufgrund schlechten Wetters ab. Der Ballon platzte und blieb in einigen jungen Fichten hängen. Reichard überlebte den Unfall mit einigen leichten Blessuren und legte zunächst eine Pause ein, um 1816 nach der Übersiedelung der Familie nach Freital-Döhlen weitere Ballonaufstiege zu wagen, um die Gründung einer chemischen Fabrik zu finanzieren. Schon in diesem Jahr fand eine Zielfahrt zwischen Berlin und Fürstenwalde statt, was ein europaweites Novum in dieser Zeit darstellte. Überhaupt begann das Ehepaar Reichard nun die Ballonaufstiege zu professionalisieren. Vorbereitet durch Zeitungsannoncen, ausgelegte „Suscriptions-Listen“ und geschickte Auswahl der Zeitpunkte wurden ihre Fahrten zu publikumswirksamen Geschäftserfolgen. Einnahmequellen waren dabei zahlende Fahrgäste sowie Eintrittsgelder für Vorführungen vor dem Aufstieg und nach der Landung.

Letzte Ballonfahrt anlässlich des 10. Oktoberfestes in München

Zwischen 1811 und 1820 unternahm Wilhelmine Reichard insgesamt 17 Ballonfahrten in verschiedenen deutschen Städten, sowie in Prag, Brüssel und Wien. Darüber verfasste sie medienwirksame Zeitungsberichte, in denen sie auch wissenschaftliche Beobachtungen wiedergab. Auf ihren Fahrten wurden Luft- und Windverhältnisse sowie Temperaturen gemessen, Witterungsveränderungen notiert, Höhen festgestellt, Luftproben mit auf die Erde gebracht und körperliche Befindlichkeiten registriert. Ihre 16. Ballonfahrt in Wien wurde von der Universitäts-Sternwarte und Triangulierungsdirektion astronomisch vermessen und aufgezeichnet. Ihr letzter Aufstieg fand 1820 anlässlich des 10. Oktoberfestes in München statt. Zu diesem Zeitpunkt war die mittlerweile 30-jährige bereits über die Grenzen hinaus bekannt und genoss durch Mut, Bescheidenheit und fachliche Kompetenz hohes Ansehen.

Kulturdenkmal in der Reichardstrasse

Die zweite Lebenshälfte widmete das Ehepaar Reichard ihrer Chemiefabrik, welche im „Plauenschen Grund“ bei Dresden aufgebaut wurde. Gottfried Reichard wurde im Raum Dresden ein einflussreicher Industrieller und Wilhelmine führte das Unternehmen auch noch nach dessen Tode vier Jahre alleine weiter, bis auch sie 1848 mit 60 Jahren starb. Das Wohnhaus der Familie in der nach ihr benannten Reichardstraße in Freital wurde – stark sanierungsbedürftig – vom Ballonenthusiasten Matthias Schütze Ende der Neunziger Jahre gekauft und zu einem wahren Schmuckstück restauriert. Mittlerweile gibt es Bestrebungen, das Kulturdenkmal auch museal zu nutzen. Eine Gedenktafel für Deutschlands erste Ballonfahrerin hängt heute schon am „Reichardhaus“ und wurde von der örtlichen Sparkasse gestiftet.

Briefmarke und eigener Ballon in Dresden

 

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Bereits 1978 erinnerte sich die westdeutsche Bundespost an die Luftfahrtpionierin und widmete ihr eine eigene Gedenkbriefmarke. Eine Erinnerung ganz anderer Art an Wahl-Sächsin Wilhelmine Reichard ist regelmäßig im Raum Dresden zu sehen. Auf einem 27 Meter hohen Ballon prangt ihr Konterfei. Das Flaggschiff der Ballonfahrten Dresden ist nun schon in der dritten Generation an Sachsens Himmel präsent und seit 1998 ziert das Bildnis der ersten deutschen Ballonfahrerin die Ballonhülle und erinnert so an eine Frau, die die Luftfahrt in Deutschland maßgeblich beeinflusst hat.